Einhundert Samstage

0
251

Der amerikanische Schriftsteller Michael Frank trifft bei einem Vortrag zufällig die 92jährige Stella Levi. Beide machen sich miteinander bekannt und Frank spürt gleich die Besonderheit dieser Frau. Stella ist eine rüstige, elegante und selbstbewusste alte Dame, die auch Interesse an Franks Tätigkeit bekundet. In ihrem fortgeschrittenen Alter ist sie begierig darauf, endlich jemanden ihre bewegte Lebensgeschichte zu erzählen, damit sie nicht vergessen wird, die untergegangene Welt ihrer Kindheit, die Welt der Juden auf Rhodos. Aber Stella ist anfangs misstrauisch und Frank muss ihr Vertrauen erst gewinnen. Dann entwickelt sich jedoch zwischen beiden eine einzigartige Beziehung. Sie treffen sich an insgesamt 100 Samstagen über 6 Jahre hinweg, und Stella erzählt und Frank schreibt auf.

Es beginnt eine faszinierende Zeitreise in Stellas Kindheit und Jugend in der Juderia, dem jüdischen Viertel auf der griechischen Insel Rhodos. In ihren Erinnerungen lässt Stella das bunte Leben in der Juderia wiederaufleben, mit all den Traditionen, dem jüdischen Alltag, den Farben, den Klängen, den Gerüchen. Und sie erzählt von dem bunten Leben in dem Viertel und ihrer Familie, von den vielen Generationen, die auf Rhodos lebten. Von den Großeltern, Eltern und ihren vielen Geschwistern, von denen bereits einige in die USA oder nach Afrika ausgewandert sind. Die Eltern sind sehr mit den alten jüdischen Traditionen verhaftet, aber mit der jüngeren Generation hält langsam auch die Neuzeit Einzug. Stella ist wissbegierig und neugierig und erhält auf einer katholischen Schule Zugang zu Latein, Griechisch, Literatur und Geschichte.

Im Juli 1944 ertönt morgens ein Fliegeralarm, obwohl kein Angriff erfolgt. Der Alarm sorgt aber dafür, dass die Inselbewohner in ihren Häusern bleiben und nicht mitbekommen, wie die 1700 jüdischen Bewohner von den deutschen Besatzern zum Hafen getrieben und auf drei Schiffe gebracht werden. Der Marsch zum Hafen dauert drei Stunden, die Fahrt zum Festland acht Tage, die Fahrt mit dem Zug nach Auschwitz 13 Tage. 90% der Bewohner der Juderia sterben in dem Vernichtungslager. Stella und ihre Schwester Renée überleben und können erst nach Italien, dann in die USA reisen. Stella zieht es nach New York, dieser pulsierenden und spannenden Stadt. Sie führt dort ein erfülltes und finanziell unabhängiges Leben. Zeitlebens hat sie einen großen Freundeskreis in intellektuellen Kreisen. Sie lernt im Kulturleben New Yorks viele Prominente kennen, u. a. Woody Allen oder Willem de Kooning.

Aber die Vergangenheit lässt sie nicht los. 1977, nach 33 Jahren, wagt Stella tatsächlich eine erste Reise zurück zu ihren Wurzeln, zurück nach Rhodos. Die alte Welt der Juderia, die Welt ihrer Kindheit, ist jedoch komplett verschwunden. Sie kehrt danach mehrfach zurück unterstützt die Restaurierung der Synagoge und die Einrichtung eines Museums. Aber vor allem arbeitet sie bis heute unermüdlich daran, die Erinnerung an all die Menschen aufrechtzuerhalten, die durch die Nazis umgebracht wurden.

Ich fand dieses Buch in vielerlei Hinsicht sehr beeindruckend. Zum einen war mir die Geschichte von Rhodos, den vielen Besatzern und das Schicksal der Bewohner der Juderia völlig neu. „100 Samstage“ lässt die verlorene Welt der Juderia auf Rhodos fast märchenhaft wiederauferstehen, so eindringlich sind die Schilderungen des damaligen Lebens. Zum anderen ist es ein wichtiges historisches Zeugnis gegen das Vergessen. Die heute 100jährige Stella Levi setzt den Menschen ein Denkmal und der Schriftsteller Michael Frank macht aus ihren Erzählungen ein einfühlsames und zutiefst lebensbejahendes Buch. Es geht nicht um eine Abrechnung mit einem schrecklichen Lebens- und Zeitkapitel, sondern beiden geht es einzig um das Erinnern und das Nicht-Vergessen („Wissen ist Erinnern, Lesen ist Erinnern“). Und genau wie der Autor bin ich von der Person Stella Levi tief beeindruckt, obwohl ich sie selbst nicht kennengelernt habe. Dazu reicht dieses berührende Buch.


Michael Frank, Einhundert Samstage
Rowohlt Verlag
Gebunden: 978-3-7371-0180-6, 24,00 €
eBook: 978-3-644-01686-6, 19,99 €