22 Bahnen

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Bild Schwimmerin

Zum Lieblingsbuchs der Unabhängigen Buchhandlungen wurde 2023 der Roman „22 Bahnen“ von Caroline Wahl gewählt. Ein sehr beeindruckendes Buch, das ich ab einem gewissen Punkt kaum aus der Hand legen mochte.

Erzählt wird ein kurzer Abschnitt aus dem Leben von Tilda Schmitt. Sie studiert Mathematik und wohnt zusammen mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Ida in einer Vorstadt von Berlin. Die Lebensumstände von Tilda sind schwierig. Die Mutter trinkt und kann weder sich noch die beiden Mädchen versorgen. Es gibt schreckliche Situationen zu Hause, wenn die Mutter betrunken ist. Dann ist sie unberechenbar und aggressiv. Ida und Tilda fürchten sich permanent vor diesen Abstürzen. Und auch in den guten Phasen der Mutter sind sie misstrauisch und können sich nicht entspannen. Sie wissen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis das „Monster“ wieder aus ihr herausbricht.

Tilda nimmt für Ida, die noch in die Grundschule geht, die Mutterrolle ein und versucht sie so weit wie möglich zu beschützen. Sie hat einen Nebenjob an der Kasse eines Supermarktes, um Geld hinzuzuverdienen und sich und Ida zu versorgen. Einzige Abwechslung in Tildas Leben ist der regelmäßige Besuch des Freibads, meist mit Freundin Ursula. Tilda schwimmt immer genau 22 Bahnen und das Schwimmen ist für sie die Flucht aus dem trübseligen Alltag. Im Schwimmbad trifft sie dann auch auf einen jungen Mann, Viktor Wolkow. Sie erkennt in ihm den Bruder eines vor fünf Jahren verstorbenen Mitschülers. Er schwimmt genau wie sie exakt 22 Bahnen. Tilda und Viktor kommen sich näher. Sie, die sonst allen Kummer in sich hineinfrisst, kann sich bei Viktor fallen lassen. Vor allem nach dem Selbstmordversuch der Mutter, erweist sich Viktor in mehrfacher Hinsicht als Retter in der Not.

Tilda ist eine hervorragende Mathematikstudentin. Mathematik und Zahlen sind verlässlich, während sie im echten Leben immer verlassen wurde: ihr Vater verließ die Familie, dann gingen ihre Freunde nach dem Abitur und ihr bester Freund starb. Ihr blieb nur Ida und genau deshalb steht Tilda unvermittelt vor einer schweren Entscheidung. Ihr Professor bietet ihr eine freie Promotionsstelle an der Humboldt Universität in Berlin an, wo sie ihre Masterarbeit schreiben kann. Die einmalige Chance diesem öden Leben zu entkommen. Aber kann Tilda Ida einfach im Stich lassen, um endlich ein eigenes Leben zu leben?

Vielleicht liest sich die Rezension ein bisschen düster. Das Thema ist auch eher traurig, was sich in der Sprache widerspiegelt. Die oft kurzen, fast abgehackten Sätze geben Tildas Dumpfheit in ihrem Inneren wieder. Die seltenen, fast poetischen Momente, wenn sich Tilda Kraft Fantasie in eine Traumwelt versetzt, um der Realität kurz mal zu entkommen, schaffen dann wieder den Ausgleich. Ich wurde beim Lesen gefesselt, weil die Autorin Caroline Wahl es versteht, den Leser tief in die Gefühlswelt von Tilda abtauchen zu lassen. Man fühlt mit Tilda, ist traurig, ist wütend. Die Situation mit der Mutter wird schonungslos beschrieben. Trotzdem ist es ein rührendes und herzerwärmendes Buch. Mit Tilda ist der Autorin ein unglaublich starker Charakter gelungen.

Dieser Roman ist packend. Aber besonders wichtig ist: das Ende, das ich hier absichtlich ausgespart habe, endet versöhnlich und man kann das Buch mit einem guten Gefühlt zuschlagen.

Caroline Wahl, 22 Bahnen
DuMont Buchverlag
Gebunden, 978-3-8321-6803-2, 22,00 €
Taschenbuch, 978-3-8321-6724-0, ca. 13,00 € (erscheint April 2024)
eBook, 978-3-8321-8278-6, 17,99 €