Literaturtipp: Was ich euch nicht erzählte

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Zerrissene Seelen

Für diese Buchbesprechung habe ich den Roman „Was ich euch nicht erzählte“ der amerikanischen Autorin Celeste Ng ausgewählt. In diesem Roman geht es um die Familie Lee aus der amerikanischen Kleinstadt Middlewood, bestehend aus den Eltern James und Marilyn, und den Kindern Lydia, Nath und Hannah. Die Handlung des Romans zieht sich von den 1950er bis in die 1970er Jahre.

Der Vater James ist Sohn von Einwanderern aus Hongkong. Er leidet zeitlebens unter Diskriminierung als Asiat, die zumeist nicht offen zu Tage tritt, ihm aber eine Hochschulkarriere verwehrt.

Die Mutter Marilyn heiratet gegen den Willen der Mutter, die eine solche „Mischehe“ mit einem Asiaten missbilligt („Das ist nicht richtig“). Der Kontakt zwischen Mutter und Tochter bricht am Tag der Hochzeit für immer ab. Marilyn kann sich zeitlebens nicht damit abfinden, dass sie ihr Studium zugunsten der Familie nicht abschließt. Sie wird durch Ehemann und Kinder zu einem Leben als Hausfrau und Mutter gezwungen, träumt aber beständig davon, eine berühmte Wissenschaftlerin zu sein und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie bricht kurzzeitig aus ihrem bisherigen Trott aus und verlässt Mann und die zwei Kinder. Die dritte Schwangerschaft beendet aber diesen Fluchtversuch aus einem bürgerlichen Leben endgültig.

James und Marilyn projizieren ihr eigenes Versagen und ihre eigenen nicht erreichten Lebensziele auf die Kinder, allen voran auf die älteste Tochter Lydia. Lydia ist unfreiwillig der Mittelpunkt der Familie, alles Denken und Tun dreht sich ausschließlich um sie. Der Bruder Nath und die jüngere Schwester Hannah akzeptieren diese Rolle, weil es die Eltern glücklich macht.

Lydia ist gleichzeitig das unsichtbare Band, das die Familie Lee zusammenschweißt. Eine Familie, in der alle Mitglieder ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind. Jeder hat Geheimnisse, jeder spielt dem anderen etwas vor. Die Kinder leiden, ebenso wie die Eltern, unter Diskriminierung, denn die Familienmitglieder sind die einzigen Asiaten in der bürgerlichen Kleinstadt. Die Geschwister haben keinen Anschluss in der Schule oder Freunde.

Tochter Lydia ist traumatisiert vom Weggang der Mutter. Die Folge davon ist, der Mutter unbedingt alles recht zu machen („Ja, sagte sie jedes Mal. Ja. Ja“). Die Mutter sieht sich selbst in der Tochter und kommt nicht im Geringsten auf den Gedanken, Lydia zu überfordern. Marilyn stellt sich die Zukunft ihrer Tochter als erfolgreiche Wissenschaftlerin vor und ist überzeugt, dies sei auch der Wunsch der Tochter.

Aber Lydia ist überfordert, sie „schluckte die Träume der Eltern und unterdrückte den Widerwillen, der in ihr brodelte“ und findet zunächst Trost und Rückhalt bei ihrem Bruder Nath. Beide spielen den Eltern eine heile Welt vor, wollen die Eltern um jeden Preis – bis zur Selbstaufgabe – glücklich sehen, weil sie dadurch einen Hauch normales Familienleben spüren.

Nesthäkchen Hannah wird von keinem in der Familie richtig wahrgenommen. Sie versteckt sich, ist ein Schatten. „Hannah schrumpft, ist ein geduldeter Mond“.

Die gesamte Familiensituation lastet wie ein tonnenschwerer Stein auf allen. Vor allem aber auf Lydia. Der Zusammenhalt zwischen ihr und ihrem Bruder bröckelt zunehmend. Der endgültige Bruch kommt, als Nath die Gelegenheit zur Flucht aus dem Familiengefängnis nutzt und nach Harvarth auf die Universität gehen will. Lydia fühlt sich verraten und rächt sich an ihrem Bruder, indem sie sich mit dem Nachbarsjungen Jack einlässt, den Nath nicht ausstehen kann.

Die Situation spitzt aber weiter dramatisch zu. Lydia, die brave Tochter, fällt an der Highschool durch Kurse, die brave Tochter raucht, die brave Tochter schläft mit dem Nachbarsjungen, dem Rumtreiber. Schließlich verschwindet Lydia spurlos und wird nach Tagen ertrunken im See gefunden.

Der Schock für die Familie ist riesengroß. Jeder versucht auf eigene Weise damit umzugehen, alle aber nur für sich, isoliert: die Mutter hält sich ständig im Zimmer der toten Tochter auf, der Mann fängt eine Affäre an, Hannah macht sich weiter unsichtbar, Nath projiziert seine Wut auf Jack, den er für schuldig am Tod seiner Schwester hält.

Nach und nach kommen die Gründe für Lydias Selbstmord an die Oberfläche, das Kartenhaus einer scheinbar intakten Familie zerbricht endgültig und alle stehen vor einem Scherbenhaufen: „Alles zerbricht, so viel erhofft, am Ende nichts“.

Wer nun denkt, dieser Roman sei etwas sehr depressiv, der wird am Ende milde gestimmt. Denn die Familie Lee muss offensichtlich erst ganz am Ende ankommen, um einen neuen Anfang zu finden. Sie raffen sich tatsächlich wieder zusammen und wollen einen Neustart wagen. Ihre Erkenntnis: „Wodurch wird etwas kostbar? Indem man es verlor und wiederfand.“

Dieser Roman von Celeste Ng ist ein wirklich eindringliches, einfühlsames Familien-Psychogramm. Genauso wie die Geschichte ist auch die Sprache eindringlich, stellenweise fast poetisch. Man wird in dieses Buch einfach hineingezogen und legt es am Ende versöhnlich wieder aus der Hand. Sehr lesens- und empfehlenswert!

Zur Autorin:

Celeste Ng (sprich: Ing) wuchs auf in Pittsburgh, Pennsylvania und in Shaker Heights, Ohio. Ng studierte in Harvard und machte ihren Master an der University of Michigan. Sie schrieb Erzählungen und Essays, die in verschiedenen literarischen Magazinen erschienen und mit dem Hopwood Award und dem Pushcart Prize ausgezeichnet wurden. „Was ich euch nicht erzählte“, ihr erster Roman, war ein New York Times-Bestseller, der, vielfach prämiert, in 20 Sprachen übersetzt wurde und auch verfilmt wird.


Celeste Ng, Was ich euch nicht erzählte
Deutscher Taschenbuch Verlag, 978-3-423-14599-2, 10,90 €
eBook, 978-3-423-42960-3, 8,99 €