Literaturtipp: Ediths Tagebuch

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Der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit: das ist die wahre Hölle

Als ich las, dass am sich am 19. Januar der Geburtstag von Patricia Highsmith jährt (geboren 1921 in Fort Worth/Texas), erinnerte ich mich sofort an das Buch dieser Autorin, das mir am stärksten und nachdrücklichsten im Gedächtnis geblieben ist: Ediths Tagebuch.

Das Erst-Lesen dieses Buches ist sicher über 20 Jahre her, aber ich erinnere mich immer noch sehr genau an die Gefühle, die die Story bei mir hinterließ. Und genau diese stellten sich bei der Neu-Entdeckung dieses Romans erneut und genauso plastisch ein. Und deshalb empfehle ich diesen Roman sehr gern allen Neu-Lesern.

Der Inhalt ist relativ kurz erzählt:

Die Familie Howland, bestehend aus dem Ehepaar Edith und Brett und ihrem am Anfang des Romans 10jährigen Sohn Cliffie, zieht von New York in die Kleinstadt Brunswick Corner in Pennsylvania. Edith ist voller Vorfreude und sieht ihren Traum, ein idyllisches Provinzleben führen zu können, in greifbarer Nähe. Aber schon nach kurzer Zeit bekommt ihre Wunschvorstellung die ersten kleinen Risse, die sich über den Lauf der Jahre immer weiter auftun:

Der Sohn Cliffie entwickelt sich nicht wie gewünscht zu einem erfolgreichen Absolventen einer Eliteuniversität, glücklichen Ehemann und Familienvater. Vielmehr hängt er zu Hause herum, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und ist dauerhaft angetrunken.

Ehemann Brett beginnt eine Affäre mit einer jüngeren Frau, zieht nach New York zurück und gründet eine neue Familie. Dabei hat er keine Probleme, seinen greisen und bettlägerigen Onkel bei Edith zur Pflege zurückzulassen.

Ediths schriftstellerische Versuche mit einem eigenen, kleinen lokalen Magazin sind recht kläglich und scheitern an der Finanzierung und an ihren Leitartikeln, in denen sie immer extremer werdende Überzeugungen verbreitet. Sie gerät u. a. auch deshalb fortwährend in Konflikte mit ihrem Mann, ihren Freunden und Bekannten, die sich langsam von ihr abwenden.

Fesselnd an diesem Buch ist der zunächst leise beginnende Prozess, mit dem sich Edith ihr Leben schön träumt, der dann Fahrt aufnimmt und in einer Katastrophe endet. Edith macht irgendwann eine harmlose Eintragung in ihr Tagebuch, die nicht den Tatsachen entspricht. Statt zu schreiben, dass Cliffie die Aufnahmeprüfung für Princeton unabänderlich vergeigt, notiert sie seine Aufnahme an dieser Eliteuniversität. Und so fährt sie über die Jahre fort, sich ein idyllisches und perfektes Leben als Hausfrau, Mutter, Großmutter und erfolgreiche Journalistin zu erträumen. Und je mehr sie an der Realität scheitert, je mehr das Leben um sie herum zusammenbricht, umso mehr vertieft sie sich in ihr Traum-Tagebuch. Nur noch dort erlebt sie Positives, nur noch fühlt sie sich glücklich. Wirklichkeit und Traum vermischen sich unheilvoll für Edith.

Und als Leser ahnt man das Unvermeidliche voraus. Man möchte Edith an den Schultern nehmen, schütteln und sie anschreien: „Wach endlich auf! Schau endlich hin!“. Aber es kommt unweigerlich, wie es kommen muss und Edith versinkt langsam im Wahn.

Dieses sehr dichte Psychogramm einer Frau ist auch heute noch aktuell und faszinierend zu lesen (1977 erstveröffentlicht). Patricia Highsmith ist einfach eine Meisterin des psychologischen Romans. Vielen bekannt ist sie durch ihre Tom-Ripley-Romane, die mehrfach verfilmt wurden. Aber schon ihr erster Roman „Zwei Fremde im Zug“ wurde 1951 von Hitchcock verfilmt. Sie schrieb zahlreiche Romane und Kurzgeschichten, die auch vielfach ausgezeichnet wurden. Highsmith zog sich in ihren letzten Lebensjahren in die Schweiz zurück. Sie starb 1995 in Locarno.

 Patricia Highsmith, Ediths Tagebuch

Diogenes Verlag
Taschenbuch: 978-3-257-23417-6, 13,00 EUR
E-Book: 978-3-257-60395-8, 10,99 EUR