In jedem Menschen lebt ein Kind

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Oehmichen´s Marionettentheater, oder besser bekannt als Augsburger Puppenkiste. Ich bin mit Ihnen groß geworden, mit der Blechbüchsenarmee, mit dem Urmel, Jim Knopf, Kalle Wirsch, dem Räuber Hotzenplotz. Unvergessen der melancholisch singende Seeelefant auf seinem Felsen im Plastikfolienmeer. Und der Zauber hält immer noch an. Offensichtlich geht es dem Schriftsteller Thomas Hettche ebenso, denn er setzt mit seinem Roman „Herzfaden“ der Augsburger Puppenkiste ein literarisches Denkmal.

Erzählt wird die Geschichte der Augsburger Puppenkiste aus der Sicht von Hannelore Marschall, genannt Hatü, der Tochter des Gründers Walter Oehmichen. Hatü ist zu Beginn des Romans 8 Jahre alt. Beide Eltern sind bekannte Schauspieler in Augsburg und verkehren in künstlerischen und liberal denkenden Kreisen. Der 2. Weltkrieg bricht aus und der Vater wird eingezogen. Hatü erlebt als Kind Bombennächte in Luftschutzbunkern, erlebt die ausgebombte Stadt und erfährt, wie das Nazi-Regime die jüdischen Mitbürger verfolgt und deportiert. Der Vater kehrt aus dem Krieg zurück und arbeitet wieder am Theater, wo er Stücke inszeniert. Hatü und ihre Schwester Ulla bekommen zu Weihnachten handgeschnitzte Marionetten vom Vater geschenkt. Ein kleines Marionettentheater wird gebaut, die Mutter näht aus Stoffresten die Puppenkostüme. Erste Stücke werden aufgeführt, zunächst im Freundes- und Bekanntenkreis, dann erste Vorstellungen vor Kriegsverletzten.

Nach dem Krieg gründet der Vater das Puppentheater im leerstehenden Heilig-Geist-Spital, wo1948 die erste Vorstellung mit dem Stück der „Der gestiefelte Kater“ stattfindet. Aber die Puppenkiste wird auch durch Stücke für Erwachsene, wie z. B. Goethes Faust oder Operettenaufführungen, bekannt. Überregionalen Erfolg haben sie mit „Der kleine Prinz“ nach dem Buch von Antoine de Saint-Exupéry. Es folgen Tourneen durch das Nachkriegsdeutschland und schließlich zu ersten Aufnahmen für das noch junge Norddeutsche Fernsehen. Der Ruhm der Augsburger Puppenkiste wird allerdings mit der ersten Serie der deutschen Fernsehgeschichte begründet, mit Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“.

Damit endet der Roman, denn die Fortsetzung der Geschichte der Augsburger Puppenkiste kennen wir ja alle.

Der Roman „Herzfaden“ ist nicht einfach eine Roman-Biografie. Vielmehr verarbeitet der Autor Thomas Hettche in einer klaren Sprache sehr eindrucksvoll die Kriegs-, aber vor allem die Nachkriegszeit in Deutschland. Es wird deutlich, wie traumatisierend für alle diese Zeiten waren. Und daher kamen die Stücke und Figuren der Augsburger Puppenkiste gerade recht. In Zeiten der Zerstörung schaffen Märchen und Geschichten ein kleines Stück heile Welt und Freude. „Die Menschen brauchen Märchen“, sagt Michael Ende und die Marionetten geben sie ihnen. Walter Oehmichen erklärt Hatü die Faszination des Puppentheaters mit dem Herzfaden: „Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“

Das Buch selbst ist wunderbar ausgestattet. Neben Zeichnungen von Matthias Beckmann finden sich auch zwei Schriftfarben, die in diesem Fall Fakten und Fiktion voneinander trennen. Der Roman hat noch eine zweite Handlungsebene. In der verirrt sich ein zwölfjähriges Mädchen auf einen dunklen, unheimlichen Dachboden, auf dem es die lebendig gewordenen Marionetten und den Geist der verstorbenen Hatü begegnet. Dieser andere Handlungsstrang unterbricht immer wieder den eigentlichen Roman und es findet ein stetiger Wechsel zwischen Wirklichkeit (Puppentheater) und Phantasie (Dachboden) statt, bis sich am Ende alles zusammenfügt: „Die Vergangenheit ist die Gegenwart und die Gegenwart die Vergangenheit. Die Zeit löst sich in der Dunkelheit auf. In einer Geschichte setzt sie sich wieder zusammen.“

Natürlich habe ich mir dieses Buch gekauft, weil es um meine Kindheitserinnerungen geht, und weil Thomas Hettche ein vielfach ausgezeichneter Autor ist, der auch mit „Herzfaden“ 2020 für den deutschen Buchpreis nominiert wurde. Aber dieses Buch ist eine echte literarische Entdeckung. Man begreift, dass Menschen in Zeiten von Not und Krieg mehr brauchen als das, was zum puren Überleben nötig ist. Ein bisschen Träumen und ein bisschen Phantasie gehören auch dazu. „Timmt!“ würde das Urmel zustimmend sagen.

Übrigens:

Wer das mit dem Corona-Selbsttest noch mal richtig erklärt haben will, sollte sich das Video Dr. Kasperles Coronatest-Anleitung ansehen.

Im Auftrag des Bayerischen Kultusministeriums nahm die Augsburger Puppenkiste im Frühjahr 2021 ein Video zum Thema „Corona-Selbsttest“ für Schulen auf, das mittlerweile in ganz Deutschland Verbreitung findet.

Thomas Hettche, Herzfaden
Kiepenheuer & Witsch

Gebunden, 24,00 €, 978-3-462-05256-5
eBook, 14,99 €, 978-3-462-32106-7
Hörbuch, 24,99 €, 978-3-8398-1817-6