Abendrot

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Der Roman „Abendrot“ des amerikanischen Autors Kent Haruf spielt in der fiktiven Stadt Holt in Colorado – eine Kleinstadt, wie man sie sich typischerweise vorstellt. Die Bewohner werden in den ersten Kapiteln eingeführt:

Da sind die alten Viehzüchter Harold und Raymond McPheron. Seit ihrer Teenagerzeit, in der die Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, leben die Brüder zusammen auf ihrer Ranch. Bevor sie die junge Frau Victoria Roubineaux mit ihrer kleinen Tochter Katie bei sich aufnahmen, hatten sie kaum Kontakte zu Nachbarn oder anderen Stadtbewohnern. Victoria zieht mit ihrer Tochter Katie jedoch nach Fort Collins, um auf das dortige College zu gehen und sich ein eigenes Leben aufzubauen. Harold und Raymond sind wieder allein auf der Ranch. Plötzlich wird ihnen ihr Einsiedlerleben überdeutlich bewusst und sie finden nur schwer in ihre alte Routine zurück. Dann kommt Harold bei einem Unglück ums Leben und Raymond versinkt nun endgültig in Einsamkeit. Er hat zwar Unterstützung bei der Arbeit auf der Ranch durch einen Nachbarn, und Victoria und Katie besuchen ihn regelmäßig über die Wochenenden, aber erst Victorias Verkupplungsversuch mit einer Krankenschwester holt Raymond aus seinem Schneckenhaus. Er traut sich in die Stadt und geht tatsächlich regelmäßig in eine Kneipe unter Leute und lernt eine weitere Frau kennen und lieben.

DJ Kephart, 11 Jahre alt, ist ein kleiner, schmächtiger und sehr stiller Junge. Seinen Vater kennt er nicht, seine Mutter starb bei einem Autounfall als er 5 war. Er lebt bei seinem 75jährigen, raubeinigen Großvater Walter. DJ führt den Haushalt, erledigt die Einkäufe und kümmert sich fürsorglich um seinen Großvater, als dieser an einer Lungenentzündung erkrankt. Den einzigen Kontakt hat er zu dem Nachbarsmädchen Dena. Mit ihr richtet er sich einen heimlichen Rückzugsort in einer alten Scheune ein, denn auch Dena Wells lebt in einer prekären Situation. Ihre Mutter Mary wurde von ihrem Ehemann verlassen. Sie kommt mit dieser Situation nicht klar und ertränkt ihre Einsamkeit in Alkohol. Der Zustand verschlimmert sich immer mehr, sie raucht, trinkt übermäßig, putzt das Haus nicht mehr, vernachlässigt ihre beiden Kinder.

Und dann gibt es noch Luther und Betty June Wallace, ihren Sohn Ritchie und ihre Tochter Joy Rae. Sie leben in einem schäbigen Trailer von der Sozialhilfe. Luther und Betty sind naiv, etwas zurückgeblieben und haben große Probleme das eigene Leben und das ihrer Kinder eigenständig zu regeln. Daher unterstützt eine Sozialarbeiterin sie im Alltag und bei Behördengängen. Die Erwachsenen werden wegen ihrer Armut in der Stadt schief angesehen, die Kinder in der Schule gemobbt. Eines Tages nistet sich Bettys Onkel Hoyt bei ihnen ein, weil er mal wieder von seinem Vermieter wegen Mietschulden vor die Tür gesetzt wurde. Hoyt ist ein Taugenichts, ein Säufer und Schläger, der keinen Tagelöhnerjob länger als sechs  Wochen behält. Luther und Betty können sich gegen den brutalen Hoyt nicht wehren, auch nicht als er anfängt die Kinder schwer zu misshandeln. Über die Schule werden der Sheriff und das Sozialamt auf die Misshandlungen aufmerksam. Ritchie und Joy Rae kommen schließlich aufgrund der Zustände und dem passiven und hilflosen Verhalten der Eltern zu einer Pflegemutter.

Ich hatte beim Lesen von „Abendrot“ unweigerlich Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper vor Augen: die leeren Straßen und Menschen, die zwar an einem Ort zusammen, aber trotzdem voneinander isoliert scheinen. Einsamkeit und Verlust sind sicher die  durchgehenden Motive dieses Buches. Alle Figuren stehen am Rande der Gesellschaft, alle sind auf ihre Art einsam und haltlos, müssen mit harten Schicksalsschlägen umgehen. Diese Menschen sind wie die Landschaft in der sie leben: eine weite, offene, trostlose Landschaft, Ranchen und Farmen weit voneinander entfernt. Aber trotzdem sind diese Menschen auf eine andere Art durch ihre Schicksale miteinander verbunden, denn hier und da kreuzen sich ihre Lebenswege und verbinden sich.

Abendrot“ ist ein sehr leiser und anrührender Roman. Der Autor Kent Haruf beschreibt seine Romanfiguren mit sehr viel Feingefühl, er lässt uns Leser in die Herzen und die innere Not der Menschen blicken. Und trotz der schweren Schicksale des Einzelnen, ist Liebe, oder besser die Suche nach Liebe, das zweite große Thema des Buches. Es finden ganz unterschiedliche Menschen zueinander. Sie geben sich gegenseitig etwas, was der Andere braucht. Ein kleines und spätes Glück für Menschen, die lange alleine und einsam waren, die alle auch einen Verlust verarbeiten mussten. Und diese kleinen Lichtblicke in einem sonst so trüben Leben machen den Roman aus, lassen uns positiv nach vorne blicken.

Kent Haruf, geboren 1943 in Colorado, war ein amerikanischer Schriftsteller, dessen sechs Romane alle in der fiktiven Kleinstadt Holt spielen. „Abendrot“ ist der Teil 3, aber unabhängig von den anderen lesbar. Haruf starb 2014 und der Diogenes Verlag legt seine Romane nun komplett auf Deutsch auf. Die Teile 1-4 sind bereits lieferbar. Teil 1 „Unsere Seelen bei Nacht“ wurde 2017 mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. Das Buch (978-3-257-24465-6) habe ich auf einer Zugfahrt komplett weggeschmökert, denn ich wollte unbedingt mehr von Haruf lesen. Es ist ein sehr heiterer, charmanter Roman über ein älteres Paar, das eine späte Liebe erlebt. Mit viel Augenzwinkern geschrieben. Ebenfalls sehr empfehlenswert!


Kent Haruf, Abendrot
Diogenes Verlag
Taschenbuch, 13,00 €, 978-3-257-24553-0
EBook, 10,99 €, 978-3-257-60931-8